04.03.2013, 11:42 Uhr

Pectoralis-Phänomen auf der Heideterrasse

Masseneinflug der großen Moosjungfer im Mai 2012...von Heide Gospodinova und H. - Willi Wünsch

Männchen der großen Moosjungfer
Männchen der großen Moosjungfer
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Zusammenfassung

In der zweiten Maihälfte des letzten Jahres kam es zu einem Masseneinflug der großen Moosjungfer, Leucorrhinia pectoralis (Charpentier, 1825) im Westen Deutschlands, den Benelux-Ländern sowie in weiten Teilen Mitteleuropas. Dieses Ereignis wurde aufgrund des plötzlichen flächendeckenden Vorkommens und den daraus resultierenden Nachweisen einer überaus hohen Individuenzahl der Art von Libellenkundlern als "Pectoralis-Phänomen" bezeichnet. Bei der großen Moosjungfer handelt es sich um eine großlibellenart aus der Familie der Moosjungfern (Leucorrhininae). Sie wird in der Roten Liste für bedrohte Tierarten in der höchsten Stufe 1 (= vom Aussterben bedroht) aufgeführt. Darüber hinaus ist sie eine der wenigen Tierarten, die gemäß den FFH (Fauna-Flora-Habitat) Richtlinien gemäß Anhang II und IV europaweit einen besonderen Schutz genießen. Die Autoren berichten im Folgenden über die Zusammenhänge, die aus ihren eigenen Beobachtungen und den ihnen vorliegenden Daten zu diesem Einflug geschlussfolgert werden können. 

Einleitung

Ab dem 20. Mai des Jahres 2012 wurden von zahlreichen Odonatologen (Libellenkundlern) aus vielen Habitaten Beobachtungen via Internet und e-Mail zusammengetragen, die sich nahezu wie ein Ei dem anderen gleichten. An Gewässern, die für ihre angestammte Libellenfauna seit Jahren bekannt waren, tauchte plötzlich eine extrem seltene Libellenart in hoher Individuenzahl auf. Dabei handelte es sich um die große Moosjungfer (Leucorrhinia pectoralis). Die Tiere besiedelten nun Lebensräume, an denen sie noch nie zuvor beobachtet werden konnten. So wurden aus Rheinland-Pfalz binnen weniger Tage 13 neue Fundorte gemeldet. Die Art galt bis dato in diesem Bundesland bereits als ausgestorben. Erstmals wurden Tiere im Saarland nachgewiesen. (Dr. B. Trockur, 2012) In Hessen gelangen Nachweise an bisher für die Art unbekannten Gewässern (Dr. J. Ott, 2012). Hier fanden sich einige der wenigen Habitate, an welchen Leucorrhinia pectoralis mit der Nordischen Moosjungfer (Leucorrhinia rubicunda) vergesellschaftet flog. Im gleichen Zeitraum gingen beim "Arbeitskreis Libellen - NRW e.V." 40 Meldungen von rund 30 verschiedenen Gewässern ein. (Dipl.- Biol. C.-J. Conze, 2012). Viele weitere Meldungen, die sich über das gesamte Bundesland erstreckten, folgten noch bis Ende Juli. Über die erwähnten Kommunikationsmöglichkeiten wurden Beobachtungen aus den Nachbarländern publik. In der Schweiz trat die große Moosjungfer in den Kantonen Zürich und Aargau an vollkommen neuen Stellen auf (Prof. Dr. Hansruedi Wildermuth, 2012). Aus Belgien, Holland und Nordfrankreich, vorwiegend im Raum Calais, wurden starke Vorkommen gemeldet. (G. De Knijf, C. Vanappelgem, T. Ternaat). Leucorrhinia pectoralis schaffte sogar den Flug über die Ost- und Nordsee und überquerte den Ärmelkanal. Aus dem Britischen Suffolk kamen bis in den Juni etliche Fundmeldungen nach Deutschland. (A. Parr, 2012) Schweden hatte wohl den stärksten Zuwachs zu vermelden. Die Art nahm dort in sehr kurzer Zeit sprunghaft zu. Man organisierte ein aktuelles "FFH - Monitoring" dessen Ergebnis nach konservativen Schätzungen etwa 20.000 Populationen erbrachte (Prof. Dr. G. Sahlén).  Etwa 4 Wochen später wurden Tiere im italienischen Trentino gefunden. Hier war die große Moosjungfer in den letzten 40 Jahren nicht mehr vorgekommen. (Macagno et. al. , 2012) Dieser Fund stellt die einzige Population für Italien dar. Das Auftreten von L. pectoralis in einem  derart großen Bestand, welcher sich in wenigen Wochen über die Fläche des größten Teils von Mitteleuropa erstreckte, muss als äußerst bemerkenswert bezeichnet werden, da die Art an den meisten Orten zuvor nicht zu finden war.


Paarungsrad der großen Moosjungfer
Paarungsrad der großen Moosjungfer
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Eigene Beobachtungen zum "Pectoralis-Phänomen" in Habitaten der Kölner Bucht

Erste Belegaufnahmen der großen Moosjungfer gelangen den Autoren bereits wenige Tage nach Bekanntwerden des mutMaßlichen Masseneinfluges der Art. Anfang Juni konnten etwa ein Dutzend Männchen an Gewässern in der Kölner Bucht dokumentiert werden. Im gleichen Zeitraum kam es dort auch zu Fortpflanzungsaktivitäten der Tiere. Eines der Habitate ist einer der wenigen Fundorte an welchen auch die Nordische Moosjungfer in Vergesellschaftung gefunden werden konnte, was die folgenden Aufnahmen belegen:

Zuverlässige Belegaufnahmen sowie Mitteilungen persönlich bekannter Odonatologen zeugen von Funden der Art an Gewässern im NSG "Wahner Heide". Hier wurde die Art im Bereich der Südheide am Fliegenberg nachgewiesen. Statistiken zufolge stammt der letzte Nachweis der Art für dieses Naturschutzgebiet aus dem Jahr 1925. Weitere sichere Beobachtungen stammen aus dem Gebiet des Staatsforstes Siegburg - Stallberg. Eine Vergesellschaftung mit der Nordischen Moosjungfer konnte hier jedoch nicht dokumentiert, bzw. festgestellt werden.

Ende Juni 2012 konnten nur noch wenige Imagines beider Arten beobachtet werden. Am 17. Juni wurden lediglich noch 3 Männchen der großen Moosjungfer und 1 Männchen der Nordischen Moosjungfer gefunden.

Mögliche Ursachen und Diskussion

Zum Zeitpunkt des Masseneinfluges herrschte eine beständige Hochdruckwetterlage  mit reichlich Sonnenstunden und teils kräftigem Ostwind. Daher spricht vieles für eine starke Zuwanderung aus dem Norden und dem Osten Europas. Dies setzt voraus, dass sich die Art in weiten Teilen dieser Gebieten in den Jahren zuvor sehr gut entwickelt hat. Eine Gesamtpopulation, verteilt über ein derart großes Einfluggebiet ist nur sehr schwer, wenn nicht unmöglich abzuschätzen. In diesem bisher einmaligen Fall dürfte es sich jedoch um eine Größenordnung von mehreren Hundertausend Individuen handeln. Die günstigen Witterungsverhältnisse wurden von den großen Moosjungfern ausgenutzt, um sich stark nach Westen und Süden hin auszubreiten. Strecken von Nordostdeutschland oder von Polen bis in die neu besiedelten Gebiete stellen für aktiv fliegende großlibellen kein sonderliches Problem dar. Insbesondere dann nicht, wenn günstige Winde den Flug unterstützen. Das Auffinden von Gewässern, selbst wenn es von Wald umgeben ist, ist für die Art ebenfalls unproblematisch (Bönsel, 2006).

Das letztjährige extrem starke Auftreten von Leucorrhinia pectoralis kann somit auf mehrere Faktoren zurückgeführt werden:

1) Auf eine allgemeine Populationszunahme in den Stammgebieten

2) Auf möglicherweise kleinere Ansiedlungen, sozusagen als "Vorposten" und

3) Aktuell zusätzlich auf einen starken Expansionsflug aus dem Norden und dem Osten infolge optimaler Witterungsbedingungen.

Bei der Ausbreitung der als eurosibirisches Faunenelement geltenden Art spielen Temperaturkomponenten offensichtlich keine Rolle. Für die Besiedelung neuer Gewässer sind andere wichtige Faktoren von Bedeutung. Entscheidend sind vor allem die Wasserhaushaltssituation und die Biotopqualität, welche natürlich auch vom Klima abhängen. So ist ein Fischbesatz, verschiedene Stadien der Sukzession und Eutrophierungsgrade für die künftige Existenz der Art ausschlaggebend. Bei einer larvalen Entwicklungszeit von zwei bis drei Jahren wird man frühestens in 2014 feststellen, an welchen Biotopen sich die Art erfolgreich reproduziert haben wird. 

Männchen der Nordischen Moosjungfer
Männchen der Nordischen Moosjungfer
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Dank

Die Verfasser danken Herrn Dr. Jürgen Ott für die Manuskriptvorlage. Dem AK Libellen-NRW e.V., insbesondere Herrn Dipl.-Biol. Claus-Jürgen Conze danken wir für die Erfassung und die Verarbeitung unserer persönlichen Daten.


Literatur

Ott, J: Zum starken Auftreten der großen Moosjungfer - Leucorrhinia pectoralis (Charpentier, 1825) im Jahr 2012 nebst Bemerkungen zu Leucorrhinia rubicunda (Insecta: Odonata)

Bönsel, A. Mauersberger, R. Wachun, R. & V. (2010) Steckbriefe der in Mecklenburg-Vorpommern vorkommenden Arten der Anhänge II und IV der FFH - Richtlinie.

Klaas Douwe/B. Dijkstra: Field Guide of the Dragonflies in Britain and Europe.

Sternberg/Buchwald: Die Libellen Baden-Württembergs, Band 2, großlibellen, S. 415-427

Wildermuth H: Habitate und Habitatswahl der großen Moosjungfer (Leucorrhinia pectoralis).

Populationsbiologie von Leucorrhinia pectoralis. (Anisoptera: Libellulidae - Libellula 12: S 269-275

Menke, N, & Olthoff, M. (2009): Individuenreiche Vorkommen der großen Moosjungfer (Leucorrhinia pectoralis) in Westfalen im Jahr 2008. Masseneinflug oder übersehene Vorkommen. Natur und Heimat Nr. 62

H.- W. Wünsch & H. Gospodinova: Die Libellen Nordrhein-Westfalens. CD-ROM, Band 2, großlibellen, 4. aktualisierte Auflage 2012.


Verfasser des Artikels:

Heide Gospodinova & H. - Willi Wünsch

E-Mail: willi@waldschrat-online.de

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